Brief von Gabriele Gayet

Liebe Inge,

diese Karwoche 2025 ist eine ganz besondere, gibt es doch aktuell eine ganze Menge zu leiden und zu trauern. Aber das ist ja das Außerordentliche an den biblischen Geschichten. Es sind ewig gültige, zeitunabhängige Mechanismen menschlichen  Lebens, die da erzählt werden, Geschichten vom Gelingen und Scheitern. Wenn ich an Goetzens Leben denke, so überwiegt bei weitem das Gelungene. Vor der Mittagspause habe ich meinen Trauerbrief an P abgeschlossen.

Welch ein Kontrast zwischen den beiden Leben. Angst und Unsicherheit waren in M’s Leben ganz dominant. Für Goetz war Angst-so glaube ich – ein Fremdwort. Ich erinnere mich und Dich nur an die Geschichte , als das Neue Forum aus der Taufe gehoben worden  war, und Goetz zu den Grenzorganen eilte, um sie von diesem positiven Veränderungsansatz zu überzeugen.

Dann seine ganzen sportlichen Ambitionen, die er pflegte: mit dem Motorrad nach Italien mit out-door-Übernachtungen in der Wildnis der Alpen, Fallschirmspringen, Elephantentreffen in Matsch, Morast, Schlamm und Schneeresten. Er wurde ja auch als besonders Wagemutiger in der Passauer Regionalpresse und/oder irgendwelchen Spezialzeitschriften zitiert.

Sein lebenspraktischer Sinn, schier unbegrenzt. Wo niemand mehr weiter wußte, Goetz hatte bestimmt mind. eine rettende Idee. In  null Komma nichts baute er sich z.B. eine Nottoilette mitten im pulsierenden New York. Resignieren kam für ihn nicht in Frage. Er fand nahezu immer eine Lösung, zumindest eine Notlösung. Die kath. Kirche kennt ja bereits 14 Nothelfer aus der Zeit des frühen Christentums. In unseren Tagen kam dann noch Goetz dazu als letzte Rettung in Havarien und scheinbar aussichtslosen Situationen. 

Goetz und das Christentum, dazu ist mir nichts Definitives bekannt. Goetz wurde konfirmiert. Selbstverständlich fuhr er auch zur Goldenen Konfirmation. Aber Heiligabend paßte er lieber auf die Gänse im Backrohr bei Liebtraud in Koeln auf, anstatt mit in die Messe zu gehen.

Ich traf Goetz mal unverhofft auf einer gemeinsamen Veranstaltung von KSG und ESG, die mit einem oekumenischen Gottesdienst begann. Die Anwesenden wurden aufgefordert, Fürbitten frei zu formulieren und ein Teelicht vor dem Altar zu entzünden. Einer der ersten, die sich da beteiligten, war Goetz. Den Wortlaut habe ich nicht vergessen, obwohl das Ereignis in den 80-er Jahren inmitten des Wettrüstens stattfand: Lieber Gott, mach‘, daß Frieden wird.

Goetz war offen und konstruktiv. Irgendwann formulierte Goetz mal einen Satz, den ich als seine Lebensmaxime begriff:  Wenn ich helfen kann, warum soll ich da nicht helfen. Ja, warum eigentlich nicht. Goetz fühlte sich angesprochen von seinen Mitmenschen.

Wenn es sein mußte, ließ er alles stehen und liegen und eilte zur Hilfe, z.B. einmal von einer anderen Baustelle zu mir, als mein Abfluss einen massiven Defekt hatte.

Goetz war genau das Gegenteil des heute vielfach vorherrschenden Zeitgeistes, der da lautet: „Ist mir doch egal. Was geht mich das an?!“ Goetz ließ sich betreffen, er fühlte sich von anderen angesprochen, und er antwortete mit ganz konkreten Reaktionen, praktischen Handlungen. Goetz, das war und ist gelebte Verantwortungsethik.

Und dennoch, Goetz war kein Heiliger. Er soll auch nicht dazu gemacht werden. Kann man etwas Schöneres über einen Verstorbenen sagen als diesen einen einfachen Satz: er war ein Mensch, ein Mitmensch. Dabei fällt mir der litauische Philosoph Levinas ein, der die Erkenntnis von Descartes “ cogito ergo sum“ um einen  ganz entscheidenden Aspekt erweitert hat: „ ich nehme wahr. Also bin ich.“

Wahrnehmen, ganz genau hinschauen, dem anderen ins Angesicht schauen, ihn und seine Situation an sich heranlassen.

Das konnte Goetz. Argwohn und Mißtrauen schienen ihm fremd zu sein. Frohsinn und Heiterkeit hatten in dem Goetzschen Kosmos auch ihren Platz, dazu die Freude am Singen und Feiern, an größeren Besucherrunden.

Die Welt als Ganzes konnte Goetz nicht verändern , wie auch? Aber seine Um-und Mitwelt hat er schon  freundlicher umgestaltet und positiv beeinflußt und auch zum Lachen gebracht. Wer kann das schon von sich sagen!

Umso trauriger ist es, daß Goetz nicht mehr bei uns ist. Besonders schlimm ist es natürlich für Dich, liebe Inge. Goetz liebte Dich wirklich aus tiefster Seele . Er erzählte mir mal von  einer in meinen Augen überteuerten Kohlschneidemaschine aus dem Teleshopping, die Du angeschafft hattest. Ich äußerte meine Bedenken. Daraufhin Goetz nur: aber wenn sie sich doch freut.

Deine Freude war ihm auch seine Freude.

Das, was sich vor mehr als 50 Jahren in der S-Bahn zutrug, war wohl mehr als ein Zufall, eine Fügung, vielleicht auch sogar eine gar göttliche.

Goetz weiß jetzt schon mehr als wir.

Er hat die schwerste Aufgabe im Leben hinter sich gebracht, nämlich das Sterben.

Daß er in den letzten Jahren so viel leiden mußte und gleichzeitig so viel Lebenskraft und Lebensmut an den Tag legte, gibt  ein beeindruckendes Zeugnis von seiner Liebe zum Leben ab.

Pierre und ich hatten Goetz sehr gern.

Ich werde ihm jedoch wahrscheinlich nicht meine letzte Ehre erweisen können, weil ich am 23.Mai um 13,00 h meinen ersten Nachsorgetermin in der Strahlenklinik habe und meine Kräfte für den weiten Weg nach Weißensee nicht ausreichen werden.

Momentan bringt mich der Gang zum Theodor-Heuss-Platz schon an meine  Grenzen.

Du, liebe Inge, hast wahrscheinlich durch die lange Pflege auch viel Kraft eingebüßt. Mögest Du allmählich wieder etwas neue Energie schöpfen können und es Dir gelingen, einen festen Standort im Alltag ohne die physische Anwesenheit von Goetz zu finden. 

Ich grüße Dich herzlich, anteilnehmend und traurig, voller guter und teilweise lustiger Erlebnisse mit Goetz,  

Herzliche Grüße an Felix und Philipp.

Ich schreibe bewußt auf dem PC. Alternde, wenn auch operierte Augen, müssen nicht noch überstrapaziert werden.

Charlottenburg, den 15.April 2025