Letzter Brief von Inge

Vor über 50 Jahren, im Jahr 1973, einige Tage nach Weihnachten, kam ich mit einem Koffer nach Berlin, um hier zu leben. Mit unhandlichem Gepäck drängte ich mich in die überfüllte S-Bahn – und mit mir: ein langhaariger, bärtiger junger Mann.

Wir lächelten uns an, kamen ins Gespräch, und nach wenigen Stationen wussten wir schon, wer wo Silvester feiert. Du warst auf Hiddensee verabredet, und ich in Greifswald. Ich wollte, wie immer, trampen. Du erzähltest mir, dass du gewöhnlich nie mit den Öffentlichen fährst, sondern mit deinem Auto, das du gerade aus der Werkstatt abholen musstest –
und botest dich als Fahrer nach Greifswald an.

Treffpunkt Tankstelle, um 9:00 Uhr – plus/minus 10 Minuten. Später erzähltest du oft und gern, dass das meine einzige Pünktlichkeit gewesen sei. Es kam aber der Nachsatz: Du hättest auch länger gewartet. Die Fahrt erschien uns beiden viel zu kurz. Als ich in Greifswald ausstieg, wusste ich schon, dass du eine Familie hattest, von der du seit einem Jahr getrennt lebtest. Wir verabschiedeten uns wie vertraute Freunde – mit deinem Versprechen, mich nach Silvester wieder abzuholen. Das war der Beginn unserer langen und erlebnisreichen gemeinsamen Zeit.

Du bist nun vorausgegangen.
Ich glaube, dass du in meiner Nähe bist –
wissen kann ich es nicht,
und diejenigen, die es nicht glauben,
wissen – können auch sie es nicht.


Wir hatten uns so viele Briefe geschrieben. Den ersten fand ich eines Abends unter meinem Kopfkissen. Da hatte ich den Verdacht, du wolltest mir etwas Unangenehmes nicht sagen, sondern lieber schreiben – um meinen spontanen Wurfgeschossen zu entgehen. Nach dem Lesen war meine Begeisterung grenzenlos – über diesen zauberhaften Brief.

Einige Zeit danach hattest auch du einen Liebesbrief unter deinem Kopfkissen. Es wurde zur schönen Gewohnheit, uns ab und zu, einfach grundlos, einen Brief unter das Kopfkissen zu legen.

Den letzten und schönsten Brief von dir bekam ich im letzten Jahr – zu unserem 48. Hochzeitstag. Ich hatte dir einen Tag vorher gesagt, dass ich noch los muss, um für unseren Hochzeitstag einzukaufen. In meiner Abwesenheit hattest du dir Papier und einen Kuli geholt, um mich mit einem Brief zu überraschen. Diese Überraschung war dir gelungen. Diesen Brief musste ich Felix und Philipp zeigen – die anderen waren nur für dich und mich.

Zu unserem 49. Hochzeitstag, drei Tage vor deinem Tod, hatte ich dir eine Karte gemalt – mit einem kleinen Text und einem Mini-Blumenstrauß. Den Text wolltest du immer wieder lesen: 

„Unsere Liebe hat so tiefe Wurzeln,
dass sie für alle Situationen stark genug ist.
Danke für das Leben mit dir –
mit allen Höhen und Tiefen.
Ich fühlte mich bei dir immer geborgen.
Ich fühlte mich sehr geliebt.“ 

Deine Inge